Predigt vom 15. April 2012 

St. Severin Garching

 
Prediger:
Pfarrer Bodo Windolf

St. Severin Garching
Predigttext

Schuld und Barmherzigkeit
(2. Oster- bzw. Barmherzigkeitssonntag 2012)    15. April 2012

Diesen Barmherzigkeitssonntag möchte ich zum Anlass nehmen, einmal der Frage nachzugehen, wie Barmherzigkeit und persönlicher Umgang mit Schuld miteinander zusammenhängen.

Das Johannes-Evangelium berichtet ausgesprochen nüchtern über die erste Erscheinung Jesu am Ostertag, als er durch die verschlossene Tür in die Mitte seiner Jünger tritt. Die alle Vorstellung sprengende Freude, die die Freunde Jesu in diesem Augenblick überwältigt haben muss, wird nicht lang und breit geschildert. Sie wird nur kurz erwähnt, ehe Jesus gleich und ohne Umschweife auf den Kern der Sache kommt; einen Kern, den der heutige moderne Mensch eher weniger schätzt. „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. … Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben; wem ihr Vergebung verweigert, dem ist sie verweigert.“

Sendung mit dem Auftrag der Sündenvergebung – das ist das Erste, was Jesus seinen Jüngern und damit der Kirche und damit wiederum uns als Frucht seines Kreuzes und seiner Auferstehung übergibt.

Interessiert uns das eigentlich? Uns Menschen des 21. Jahrhunderts beschäftigen doch ganz andere Dinge. Die Furcht vor Krankheit, Leid, Schmerz, vor allem vor einem leidvollen Sterben ängstigt uns. Genauso die Furcht vor dem Tod. Aber Sünde, Schuld – ist das wirklich so tragisch, werden wir damit nicht allein fertig; entwickelt da nicht jeder seine eigenen Strategien, um damit klar zu kommen?

Nun ja, in der Tat, so ist es wohl. Wir erleben zwar jeden Tag, dass es Schuld gibt, entsetzliche Schuld, grauenhaft Böses in der Welt. Aber ist das nicht eher die Schuld und das Böse der anderen, der wirklichen Verbrecher? Fällt das bisschen Unrecht, das ich gelegentlich tun mag, im Vergleich dazu wirklich ins Gewicht?

Um einmal tiefer nachzufragen, was denn in vielen Menschen passiert, wenn es um die Frage nach persönlichem Versagen und persönlicher Schuld geht, möchte ich auf eine, wie ich finde, sehr kluge Rede zurückgreifen, die unsere neuer Bundespräsident Joachim Gauck vor einigen Jahren auf einem Forum der Robert-Bosch-Stiftung gehalten hat zu dem Thema: Welche Erinnerung braucht Europa? Sie wurde jetzt wieder aktuell, weil ihm vor seiner Wahl von der taz und anderen Bloggern im Internet vorgeworfen worden war, dass er in diesem Vortrag die Einzigartigkeit des Holocaust relativiert und damit verharmlost habe. Aber nicht darum soll es jetzt gehen, sondern um etwas anderes.

Unter anderem geht Gauck in seiner Rede nämlich der Frage nach, wie es komme, dass Menschen während des Dritten Reiches oder während der DDR-Zeit sich so haben ein- und anpassen können an ein totalitäres Regime; wie es komme, dass es so wenig Widerstand gab von Menschen, die sich nicht wesentlich von uns Heutigen unterscheiden. Seine Antwort ist: aus praktischen Gründen, um den Alltag einigermaßen zu meistern, arrangierten sich die meisten mit dem Leben im Falschen.

Gerade so, durch ihr Mitläufertum, wurden sie nun auch mitschuldig; zu Mittätern als ein Rädchen von vielen im Räderwerk des Systems.

Und er fragt weiter, warum sie sich, nachdem der Spuk jeweils vorbei war, so schwer taten, sich dem eigenen Versagen und der eigenen Schuld zu stellen. Warum diese lange Zeit des Verdrängens? Wiederum seine Antwort: aus Gründen des Selbstschutzes. Die Menschen fürchten sich vor Trauer, Scham, Schmerz, Depression und (Selbst-)Hass, vor der psychischen Pein, die vorbehaltlose Aufklärung und die Konfrontation mit dem eigenen Versagen auslöst. Er schließt diesen Gedankengang mit dem Satz: „Uneingestandene und unausgesprochene Schuld bindet Individuen wie Gruppen an die alte Zeit, macht befangen, mutlos und erpressbar. Wahrheit befreit.“

Mir scheint, dass Gauck etwas angesprochen hat, was nicht nur im Hinblick auf die Verbrechen der Nazis oder der DDR-Machthaber, sondern ganz allgemein gilt. Menschen verdrängen Schuld, reden sie sich schön, verharmlosen sie, deuten sie um in Gutes oder als etwas, das doch alle machen oder darum nicht so schlimm sei.

Warum? Die Antwort kann wohl nur lauten: Weil wir mit Schuld – einfach nur als Schuld und als nichts anderes als Schuld – nicht klarkommen. Ich will es so ausdrücken: Wenn ich nicht weiß, wohin ich Schuld tragen kann, damit sie mir genommen wird; wenn es nur den Ort der Anklage gibt – sei es der Anklage durch andere oder auch der Selbstanklage – aber keinen Ort, an dem Vergebung geschenkt wird, wo Schuld verwandelt wird in einen barmherzigen Neuanfang – kann ein Mensch sich seiner Schuld gar nicht wirklich stellen. Er muss mit etwas klarkommen, mit dem aus eigenem Vermögen nicht klar zu kommen ist, da niemand Schuld bewältigen kann einfach nur durch Selbstvergebung. So wird man ihr den Stachel nehmen durch all das, was ich genannt habe: durch Verdrängung, durch Schön-, Harmlos- oder Gutreden.

Jüngstes Beispiel scheint mir Günter Grass zu sein, der über Jahrzehnet seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS verschwieg, aber während dieser Zeit kaum eine Gelegenheit ausließ, sich mit moralinsaurer Mine zum Gewissen der Nation gegenüber Nazimitläufern aufzuspielen, es wohl schließlich doch nicht aushielt und sein Bekenntnis veröffentlichte, aber in einer solch selbstgerechten Pose, dass es einem nur den Atem verschlägt.

Aber so und auf diese Weise wird das Problem Schuld nun einmal nicht gelöst, sondern wirkt als bleibendes Gift in der Seele eines Menschen weiter, manchmal sogar bis hinein ins Körperliche.

Weil dieses menschliche Dilemma geradezu unausweichlich ist, ist die erste Gabe des Auferstandenen an die Kirche das Geschenk eines solchen Ortes der Barmherzigkeit, der Vergebung, der Wegnahme und Befreiung von Schuld. Es ist das Geschenk des Sakraments der Versöhnung. Denn Jesus weiß: wir brauchen diesen Ort, weil wir sonst mit unserer Sünde und Schuld gar nicht angemessen umgehen können, weil wir uns ohne diesen Ort ihr gar nicht in restloser Ehrlichkeit gegenüber uns selbst stellen können – und deswegen ist das sein erstes Geschenk.

Leider müssen wir feststellen, dass dieses Geschenk des Beichtsakraments zu den von vielen Katholiken heute beiseite gestellten Geschenken Jesu gehört. (Wobei es aber inzwischen auch wieder mehr gibt, die es für sich neu entdeckt haben.) Ich will es einmal so sagen: Die innere Stärke eines Menschen erkennt man nicht zuletzt daran, ob er fähig ist, sich auch den persönlichen Schattenseiten seines Lebens zu stellen, ehrlich zu sich selbst zu sein und im Wissen um Gottes Barmherzigkeit sein Versagen Gott zu übergeben, damit er es heile.

Ein erster Schritt könnte bei jemandem, der vielleicht noch nicht die innere Kraft und Bereitschaft zu einer Beichte hat, sein, sich einmal hinzuknien, und Gott in aller Einfachheit und Demut um Vergebung zu bitten, nicht nur so allgemein, sondern sehr konkret für das, was einem bei gründlicherem Nachdenken einfällt.

Vielleicht ist auch irgendwann der Schritt zu einer Beichte möglich. Denn noch mehr innere Stärke hat der, der das Unschöne und Schuldhafte des eigenen Lebens auch vor jemand anderem offenbaren kann, um dann durch den Mund des Priesters das Wort Jesu selbst zu hören: „Deine Sünden sind dir vergeben. Gehe hin in Frieden!“ 

Dass Sie und wir, ohne skrupulös zu sein, dies in großer Ehrlichkeit gegenüber Gott, Mitmensch und uns selbst mehr und mehr lernen, weil wir einen Ort der Barmherzigkeit und Vergebung kennen, wünsche ich uns allen.  

Pfr. Bodo Windolf

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