Feindesliebe „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Mit diesem sprichwörtlich gewordenen Satz aus dem AT leitet Jesus seine Überlegungen zur Feindesliebe ein. Uns erscheint diese Maxime als Inbegriff alttestamentlicher Ethik, als eine Weisung, die das Prinzip der Rache zu legitimieren scheint. Ursprünglich geht es aber um etwas ganz anderes. Das hier deutlich werdende Prinzip wird auch „lex talionis“ genannt und meint das Recht der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. In einer Zeit, in der „Rache“ oft keine Grenzen kannte, will die lex talionis die Rache eindämmen: für einen Zahn wieder nur einen Zahn, und nicht das ganze Gebiss; für ein Auge nur ein Auge, und nicht auch noch die Ohren. Nicht Rache, sondern der Schutz aller beteiligten Personen ist der eigentliche Sinn dieses Wortes: dem Opfer soll Gerechtigkeit widerfahren, aber es soll auch geschützt sein vor sich selbst, dass nämlich seine Vergeltung nicht jedes Maß verliere; und so soll auch der Täter geschützt sein vor überbordender Rache. Dieses Prinzip maßvoller, genau austarierter Vergeltung können wir gut einsehen. Es entspricht unserem Gerechtigkeitsempfinden, ist irgendwie das Normale. Wo kämen wir hin, wenn man sich alles gefallen ließe. Aber man soll eben auch nicht übertreiben. Das Problem ist nur, dass Jesus das nicht genügt. Er will uns über das, was normal ist, hinausführen. Er will uns – um es einmal so zu formulieren – zu „Unterbrechern“ machen“; zu Menschen, die die normale Abfolge von Gewalt und Gegengewalt, von Hass und Gegenhass, Verletzung und Gegenverletzung durchbrechen und so etwas ganz Neues setzen; die das Böse durch das Gute überwinden; die den Feind als möglichen Freund entdecken; die in sich selbst Frieden schaffen, um dann auch in der Umgebung Frieden stiften zu können. Diese Feindesliebe, zu der Jesus aufruft, hat der jüdische Religionsphilosoph Pinchas Lapide einmal sehr sinnreich als „Entfeindungsliebe“ bezeichnet; eine Liebe also, die alles andere als passiv ist, sondern die ein Äußerstes an innerer Kraft verlangt, indem ich den anderen nicht auf sein Feindsein festlege, sondern in ihm, in ihr, noch etwas anderes entdecke: nämlich den Bruder, die Schwester. Ein häufiges Missverständnis ist dabei, unter Liebe ausschließlich Sympathie und gefühlte Zuneigung zu verstehen. Das aber greift viel zu kurz. Jemanden, der mich verletzt hat, der mir Böses angetan hat und vielleicht immer wieder antut, mögen und sympathisch finden zu sollen, würde in vielen Fällen etwas vollkommen Unmögliches verlangen. Jesus aber fordert von uns nichts Unmögliches. Wohl aber will er von jedem Christen eine Entscheidung. Diese ist zunächst einmal nicht so sehr eine Sache des Gefühls, sondern eine Sache des Willens; des Willens, Böses eben nicht mit Bösem zu vergelten, sondern diesen Kreislauf zu durchbrechen. Es ist die Entscheidung: ich will, ich bemühe mich, in dem anderen nicht mehr nur den Feind oder den zu sehen, der mir wehgetan, der mir geschadet hat, sondern immer auch den Menschen, den Bruder, die Schwester. Eine solche Entscheidung setzt positive Gefühle für einen Gegner nicht voraus, kann aber nachfolgend auch die Gefühle klären und verwandeln. Wobei man sich zugestehen sollte, dass dies sehr lange dauern kann, manchmal vielleicht sogar Jahre. Es hilft wenig, sich Gefühle des Hasses, des Zornes, der Verbitterung, etc. nicht einzugestehen oder sie gar nicht zuzulassen. Man soll sie wahrnehmen, annehmen, sich eingestehen, sich auch erlauben; dann aber gilt es, sich nicht in sie zu verbeißen, sondern mit ihnen gut umzugehen, einen Weg zu suchen, der in die Versöhnung führt. Man soll und darf sich auch die Zeit geben, die man für einen solchen inneren und äußeren Prozess braucht. Entscheidend ist, und darum geht es Jesus, dass wir uns überhaupt auf einen solchen Weg begeben, und ihn nicht durch den Willen zur Nicht-Versöhnung von vorneherein blockieren. Ein
weiteres Missverständnis wäre zu meinen, Jesus verlange eine Haltung der
Passivität, des Gewährenlassens gegenüber dem Bösen. Nein, wir sollen das Böse,
das ein Mensch tut, nicht unter den Teppich kehren. Im Gegenteil, es ist als
solches zu benennen; wenn möglich, zu verhindern; gegebenenfalls auch zu
bestrafen, um andere vor einem Täter zu schützen. Aber worauf Jesus zielt, ist unser Herz. Das soll frei sein bzw. frei werden vom Gift der Rachegefühle, der Unversöhnlichkeit, der Feindschaft, des Hasses. Wenn Jesus vom Hinhalten der anderen Wange spricht, vom Geben auch noch des Mantels zum Hemd hinzu, vom Mitgehen einer weiteren Meile, dann ist das sicher nicht wörtlich zu verstehen. Es sind nur Beispiele für eine gänzlich unerwartete, überraschende Reaktion der Güte auf etwas Böses. Sie sollen unsere Phantasie anregen, immer wieder ebenfalls in einem überraschenden Sinn gut zu handeln. Ob solche unerwartete Güte dann auch die Kraft hat, aus dem Feind einen Freund zu machen, mag manchmal gelingen, manchmal auch nicht. Aber sicher wird es Kraft haben, mich selbst von Gift und Galle zu befreien, von ohnmächtigem Zorn, und mir selbst inneren Frieden schenken. Eine der wichtigsten Hilfen für „Entfeindungsliebe“ ist sicher das Gebet: „Betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet.“ Das Gebet für jemanden, gegen den ich Groll hege, kann oft der erste Schritt sein, der hilft, allmählich frei zu werden von allem Groll und nicht mehr den Feind, sondern den Mitmenschen in ihm oder ihr zu sehen. Wir
alle suchen Vorbilder für ein solches Handeln. Ich möchte einen Mann nennen,
dessen Feindesliebe mich beeindruckt und der durch einen grandiosen Film aus jüngster
Zeit bekannt geworden ist, Christian de Chargé, Prior des Trappistenklosters
„Notre Dame de l´Atlas“ in Thibirine in Algerien. 1996 wurde er mit 6
seiner Mitbrüder durch islamistische Terroristen entführt und ermordet. Der
Film „Von Menschen und Göttern“ zeichnet in bewegenden Bildern das Ringen
dieser Mönche nach, ob sie trotz der Lebensgefahr, in der sie schwebten, ihrer
Berufung, als Christen mitten unter Moslems zu leben, an deren Leben
teilzuhaben, ihnen medizinisch, wirtschaftlich und menschlich zur Seite zu
stehen, festhalten sollten; oder ob sie fliehen und ihr Leben retten sollten.
Alle entschlossen sich nach schweren inneren Kämpfen zu bleiben. Zwei Jahre,
bevor dann tatsächlich das Schreckliche geschah, schrieb Christian de Chargé
das folgende Testament, aus dem ich Ausschnitte zitieren möchte: … Sie mögen diesen Tod im Zusammenhang mit so vielen Toden sehen, die ebenso gewalttätig waren, aber in der Gleichgültigkeit dieser Zeit namenlos geblieben sind. …“ Was der Prior nun schreibt, ist verblüffend; denn er stellt sich an die Seite seines eigenen Mörders, was es ihm leichter macht, ihn mit den Augen der Barmherzigkeit zu betrachten: „Auch mein Leben hat nicht „die Unschuld der Kindheit bewahrt. Ich habe genügend lange gelebt, um zu wissen, dass auch ich Komplize des Bösen geworden bin, …, Komplize gar dessen, der mich dereinst blind erschlagen wird. Ich möchte, wenn dieser Augenblick kommt, so viel ruhige Klarheit haben, dass ich (für mich) die Verzeihung Gottes und meiner Menschengeschwister anrufen kann, aber ebenso, dass ich dem aus ganzem Herzen vergeben kann, der mich umbringen wird. …“ Welch
eine Abkehr von jeder Form von Selbstgerechtigkeit, der Selbstüberhebung über
andere. Auch er ist, wie sein Mörder, auf Gottes, auf Christi Barmherzigkeit
und Liebe angewiesen. Wie sollte er in der Nachfolge Christi nicht auch
versuchen, diese Gesinnung in sich zu tragen, selbst seinem Mörder gegenüber?
Er fährt fort: In
den Dank, mit dem nun alles über mein Leben gesagt ist, schließe ich Euch ein,
Freunde von gestern und von heute, Ihr lieben Freunde von hier, zur Seite meiner
Mutter und meines Vaters, meiner Schwestern und Brüder, hundertfach
hinzugeschenkt, wie es versprochen war.“ Und nun der wichtigste Absatz: Algiers, 1. Dezember 1993 Tibihirine, 1. Januar 1994 +Christian 2 Jahre später, 1996, starb er mit 6 Mitbrüdern den Tod, den er geahnt hatte. Ein großer Zeuge von Feindesliebe in unserer Zeit. Werden wir die Kraft finden zu einer ähnlichen Haltung, wenn wir in eine entsprechende Situation geraten? Dass Gott uns allen die Gnade dazu gebe, der Liebe keine Grenze zu setzen bzw. zumindest auf dem Weg zu einer solchen Haltung zu sein, das ist mein Wunsch für uns alle. Pfr.
Bodo Windolf |