Predigt vom 26. Dezember 2010

St. Severin Garching

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Prediger:
Pfarrer Bodo Windolf,
St. Severin Garching 

Thema:

"Vergebung - Weg zum Frieden der Weihnacht"
Predigttext

2. Weihnachtstag (Fest des hl. Stephanus) 2010

Vergebung – Weg zum Frieden der Weihnacht 

„Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Wie leicht oder wie schwer mag es Stephanus gefallen sein, sterbend diese Worte der Vergebung zu beten? Wir wissen es nicht. Aber es spielt auch keine Rolle. Das, was einzig zählt, ist, dass er, seinen Mördern verzeihend, im Frieden gestorben und vor das Antlitz Gottes getreten ist. Gerade darin ist er seinem Meister am ähnlichsten geworden.

Was hier geschah, Vergebung, ist ein Grundthema menschlichen Lebens, und zwar im Doppelsinn von Vergebung empfangen und Vergebung gewähren, über das nachzudenken lohnt.

Ich möchte zwei Beispiele anführen, die das Thema Vergebung in sicher extremer Zuspitzung verkörpern, aber gerade so auch uns etwas Zentrales deutlich werden lassen:

1971 veröffentlichte der französische Philosoph Vladimir Jankélévitch einen Aufsatz mit dem Titel: Pardonner?, in dem er sich leidenschaftlich gegen die Verjährung von Kriegsverbrechen aussprach, die im damaligen Frankreich heftig diskutiert wurde. Seine Grundthese lautete: Es gibt Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Taten der Enthumanisierung, die eine Entschuldung nicht dulden. Wörtlich schreibt er: „Jedesmal, wenn ein Akt das Wesen des Menschen als Mensch leugnet, widerspricht die Verjährung, die darauf hinauslaufen würde, ihm im Namen der Moral zu vergeben, ihrerseits der Moral.“ Vergebung kann es für ihn nur als eine persönliche zwischen Opfer und Täter geben. Wenn aber das Opfer nicht mehr lebt, ist die Tür zur Vergebung ein für allemal zugeschlagen, die Tat unvergebbar versteinert, selbst im Fall von Reue des Täters. Nebenbei erwähnt kam aufgrund dieses Aufsatzes eine Amnestie der französischen Kriegsverbrecher nicht zustande.

Ein Gegenbild: Die Jüdin Eva Mozes Kor hatte mit ihrer Zwillingsschwester die an ihnen vollzogenen Menschenversuche des SS-Arztes Joseph Mengele überlebt. In einem Interview der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 2003 beschrieb sie, wie sie gerade auch im Blick auf ihre inzwischen an den Folgen verstorbene Schwester einen Schritt vollzog, der einer persönlichen Befreiung gleichkam. 

Bei einem Treffen mit einem anderen ehemaligen SS-Arzt, Hans Münch, erlebte sie nämlich etwas, worauf sie zu allerletzt gefasst war: Münch bat sie bei dieser Begegnung um Verzeihung. Blitzartig erkannte sie in dieser Bitte die Möglichkeit, aus ihrer seelisch gelähmten und selbstzerstörerischen Existenz herauszutreten. Das „hilflose, kleine Mengele-Kaninchen“, wie sie sich ausdrückte, verfügte über etwas, das ihr bis dahin nicht bewusst war: nämlich über die Macht zu vergeben. Diese Macht der Vergebung eröffnete ihr die Möglichkeit, aus dem bedrückenden Schatten der Opferrolle, auf die sie festgelegt war, herauszutreten, auch im Namen ihrer Schwester. Die Macht des Verbrechens, die weit über die Tatzeit hinaus ihr Dasein in seiner Gewalt hielt, vermochte sie durch die Macht der Vergebung zu brechen als eine ungeheure Tat der persönlichen Befreiung. Für Eva Kor war dies „ein Akt der Selbstheilung“. Vergebung ist für sie „der Same des Friedens“. 

Auf weltweite auch empörende Reaktionen hin betonte sie, dass sie nur in ihrem eigenen Namen spreche und fügte hinzu: Jeder tue ihr leid, der nicht vergeben könne. „Wahrscheinlich bin ich nicht gut genug darin zu erklären, welch erleichternde Wirkung eine Vergebung hat.“ „Vergebung ist ein Geschenk der Befreiung von den Schmerzen der Vergangenheit.“ Ja, sie will Vergebung nicht einmal abhängig machen von der Bitte des Täters. „Dann“, so sagt sie, „wäre ich ja schon wieder auf den Täter angewiesen. Ich, das Opfer, wieder von der Gnade des Täters abhängig? Das ist doch absurd!“

Zwei Beispiele, wie Menschen sich zum Thema Vergebung verhalten können, übertragbar auf unsere eigene, persönliche Situation, mag sie fast ebenso dramatisch sein, etwa durch tiefste Verletzungen aus der Kindheit oder andere Lebenserfahrungen, oder auch weniger dramatisch. 

Jeder Mensch ist, was das Thema ganz allgemein betrifft, Opfer und Täter zugleich. Denn jeder Mensch, jeder von uns, kommt irgendwann in seinem Leben in die Situation, wo er sich fragen muss: Bin ich bereit, Vergebung zu gewähren oder zu verweigern? Und: Bin ich bereit, um Vergebung zu bitten, oder leugne und verdränge ich eigene Schuld?

Der Sinn von Weihnachten ist im Tiefsten, die Macht der Vergebung hineinzutragen in unsere oft so unversöhnliche Welt. Friede, Friede im Außen zwischen den Menschen: in der Ehe, in der Familie, zwischen den Völkern, und innerer Friede, Friede, den ich ganz persönlich in mir selbst trage, ist ohne Vergebung, ohne Bereitschaft zur Versöhnung nicht möglich. Friede mit Gott, Friede mit den Mitmenschen, Friede mit und in mir selbst – das sind die drei Dimensionen wahren Friedens; jenes Friedens, den Engel bei der Geburt des Gottessohnes, des Kindes in der Krippe zu Betlehem, verkündet haben: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade.“

Mit einem Wort der Vergebung wird der, dessen Geburt wir in diesen Tagen feiern, einst sterben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ „Friede sei mit euch“ ist das erste Wort, mit dem er als Auferstandener die Seinen begrüßt, als er ihnen erscheint. Daher ist er der wahre Friedensfürst, weil er die alles andere grundlegende Versöhnung, die zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde, bewirkt hat. Von hier aus sollen Friede und Versöhnung ausstrahlen in hinein die ganze Welt. 

Jeder von uns, der mit Gott, mit irgendeinem anderen Menschen oder mit sich selbst, unversöhnt lebt, sollte den Schritt der Versöhnung nicht aufschieben. Wie schrecklich, wenn Menschen unversöhnt sterben, Versöhnung bis zum Schluss verweigert wird, dadurch Friede für einen anderen und für sich selbst verunmöglicht wird.

Der hl. Stephanus ist ein Beispiel für ein versöhntes Sterben, versöhnt mit Gott, mit seinen Feinden, mit Frieden im eigenen Herzen. Ich denke, es ist ein zutiefst weihnachtlicher Wunsch, den ich aussprechen möchte: Ich wünsche uns allen, dass wir den Frieden in allen drei Dimensionen erfahren, und einmal wie Stephanus in diesem Frieden sterben: im Frieden mit Gott, im Frieden mit unseren Mitmenschen, im Frieden mit uns selbst, indem wir immer wieder neu Vergebung gewähren und Vergebung empfangen. 

Pfr. Bodo Windolf
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