Heilig Abend 2010 Sehnsucht – Gottes nach dem Menschen Alles
beginnt mit der Sehnsucht, Das sind die Anfangszeilen eines Gedichts von Nelly Sachs, eine Dichterin jüdischen Glaubens, die durch rechtzeitige Flucht aus Deutschland nach Schweden den Holocaust hat überleben können. Gewissermaßen über den Umweg ihrer Verse will ich heute einmal versuchen, einen Weg zum Weihnachtsgeheimnis zu bahnen. Alles beginnt mit der Sehnsucht, … Welch große Wahrheit über uns Menschen. Schon das Baby schreit nach Nahrung und bittet stumm mit großen Augen um Zuwendung, Aufmerksamkeit, körperliche Nähe, kurz: um Liebe. Und das wird sich bis zum Lebensende eines Menschen nicht mehr ändern. Keiner von uns ist sich selbst genug. Aufeinander sind wir verwiesen, aufeinander angewiesen, sehnend und uns ausstreckend nach allem, was uns Glück verspricht. Noch stärker als die körperlichen und materiellen Bedürfnisse sind dabei die nach geistigen Gütern. Und so lautet die Fortsetzung des Gedichts: Das ist des Menschen Größe und Not: Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe. Ja, Anerkennung, Wertschätzung,
Zuneigung, Freundschaft, Liebe – danach und nach viel mehr sehnen wir uns;
niemand unter uns, der ohne solche Erfahrungen glücklich und seines Lebens froh
werden könnte. Aber auch das Weitere, das die Dichterin ausführt, ist eine bedenkenswerte Grundwahrheit über die conditio humana, über unser menschliches Wesen: …
immer ist im Herzen Raum für mehr, Wann immer wir ein Ziel erreichen, wie viele Wünsche auch immer sich uns erfüllen, und wäre es das Größte, das die Erde zu bieten hat – es wäre zu wenig, es würde unsere Sehnsucht nicht restlos stillen. Es wäre, wie die Dichterin sagt, „im Herzen (immer noch) Raum für mehr, Schöneres, Größeres“. Wie aber ist das zu deuten? Es kann nur heißen: diese Sehnsucht in uns, mit der alles beginnt und die unser Leben bis zu unserem Sterben begleitet, kann nur etwas, nein jemand jenseits des irdisch Erreichbaren erfüllen: nämlich niemand anderer als Gott selbst. All unsere Sehnsucht, ob wir es uns eingestehen oder nicht, ist immer zugleich auch Sehnsucht nach Gott. Gott ist jenes Mehr, das wir spüren, wenn wir uns doch nicht zufrieden geben mit dem Erreichten, wieder nach Neuem ausstrecken, gleichsam zu neuen Ufern aufbrechen. An dieser Stelle nun erfolgt ein vollkommen unerwarteter, kühner Umschwung in den Versen von Nelly Sachs. Fing
nicht auch Deine Menschwerdung, Gott, Gott – voll Sehnsucht nach dem Menschen? Kann das sein, ist das nicht ein zu kühner, ein zu verwegener Gedanke? Gott, der Vollkommene, Unbedürftige, sich nach dem Menschen sehnend? Wie soll das sein können? Und ob es sein kann! Denn wäre
Er Mensch geworden, wenn nicht tatsächlich auch in Ihm eine solche Sehnsucht
nach uns, nach jedem einzelnen von uns lebendig wäre? Nur, es muss eine andere Art von Sehnsucht sein als die, die wir in uns tragen. Es kann nicht die Sehnsucht eines Bedürftigen sein, wie dies bei uns Menschen der Fall ist. Nein, es ist die Sehnsucht nicht der Bedürftigkeit, sondern die Sehnsucht der Liebe, die Sehnsucht einer vollkommenen, unendlichen Liebe. Mögen wir bisweilen sagen: In deiner Haut möchte ich nicht stecken; Gott sagt: Ich möchte in deiner, in eurer Haut stecken; ich, der unendlich Ferne, möchte euch nahe sein, wie ich es nur kann, wenn ich einer von euch werde, einer unter euch, einer mit euch. Und ich möchte es werden, um euch zu heilen. Denn wie oft mag es
vorkommen, dass Menschen die Sehnsucht ins Verkehrte wenden. Sehnen meint immer
auch Warten, ein schmerzhaftes
Noch-Nicht. Und dann passiert es leicht, dass wir unsere eigentliche und tiefste
Sehnsucht verdrängen und zu beruhigen suchen, indem wir sie auf abgekürzten
Wegen durch das schnelle, das käufliche, das machbare Glück zu finden meinen
und so nicht selten durch Sucht
ersetzen: Unterhaltungssucht, Kaufsucht, Arbeitssucht, Ess- oder Magersucht,
Tablettensucht, Genusssucht... Das Immer-mehr verspricht Erfüllung, aber wie
oft ist es ein leeres versprechen, und es bleibt eine gähnende, durch nichts
auszufüllende Leere. Jede
Sucht – aber auch dass Gegenteil: nämlich ein inneres nicht mehr lebendig,
fast schon tot Sein, weil einen überhaupt nichts mehr herausreißt aus dem trägen
Dahindümpeln im Alltag mit seinen eintönigen Pflichten und dem Feierabend vor
dem Fernseher und dem Glas Bier – ist Ausdruck einer uneingestandenen
Sehnsucht. Sie birgt die Gefahr der Selbstzerstörung, kann aber auch eine
Chance bergen, gleichsam ein
„Wecker“ sein, um mit ihr Zwiesprache zu halten und zu fragen: Was
willst du mir sagen? Gerade
dort, wo wir uns süchtig unfrei oder träge selbstzufrieden erfahren, sind wir
daher eingeladen, wieder mit der tiefer liegenden Sehnsucht in Berührung zu
kommen, unsere Süchte oder Lethargie wieder in Sehnsucht zu verwandeln, damit
sie uns nicht zerstören, sondern die Sehnsucht uns nach oben ziehen kann,
dorthin, wo die eigentliche Größe des Menschen liegt, und das ist das
Sich-ausstrecken nach Gott, in dem allein alle Sehnsucht an ihr Ziel kommt und
Stillung findet. Das ist wohl der Grund, warum die Dichterin auch von einer Sehnsucht nach Stille spricht. Wie viele Menschen sind gar nicht mehr in echtem Kontakt mit sich selbst. Mit sich selbst und unserer tiefsten Sehnsucht in Berührung kommen gelingt aber nur, wenn wir uns aus dem Gelärm des Alltags immer auch wieder zurückziehen und uns auf uns selbst besinnen. In der Stille, in der Tiefe unseres Herzens werden wir dann auch in Berührung kommen mit Gott; mit dem Gott, der Mensch wurde aus Sehnsucht nach mir, aus Sehnsucht nach jedem einzelnen Menschenkind. Fing
nicht auch Deine Menschwerdung, Gott, mit
dieser Sehnsucht nach dem Menschen an? So
lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen, Dich
zu suchen, und
lass sie damit enden, Dich gefunden zu haben. Wer etwas davon in sich spürt, wie sehr Gott, wie sehr Jesus sich nach mir sehnt, der fängt an, das wesentliche des Weihnachtsgeheimnisses zu begreifen. Und so will ich schließen mit dem ganzen Gedicht von Nelly Sachs. Wie schön, dass es eine Jüdin ist, so wie Jesus und Maria und die Apostel und alle anderen Freunde Jesu Juden waren, die uns durch ihre Verse das wunderbare Geheimnis dieser Heiligen Nacht erschließt: Alles
beginnt mit der Sehnsucht, immer
ist im Herzen Raum für mehr, für
Schöneres, für Größeres. Das
ist des Menschen Größe und Not: Sehnsucht
nach Stille, nach Freundschaft und Liebe. Und
wo Sehnsucht sich erfüllt, dort
bricht sie noch stärker auf. Fing
nicht auch Deine Menschwerdung, Gott, mit
dieser Sehnsucht nach dem Menschen an? So
lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen, Dich
zu suchen, und
lass sie damit enden, Dich
gefunden zu haben. Pfr.
Bodo Windolf |