Predigt vom 7. März 2010

St. Severin Garching

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Prediger:
Pfarrer Bodo Windolf,
St. Severin Garching 

Thema:

"Von Missbrauch, Sündenböcken und Umkehr"
Predigttext

3. Fastensonntag C 2010      7. März 2010

Von Missbrauch, Sündenböcken und Umkehr

„Blutbad im Tempel. Römischer Statthalter lässt Pilger aus der Provinz niedermachen.“ So oder so ähnlich würde heute wohl eine Schlagzeile über das Ereignis lauten, von dem Jesus ganz aufgeregt berichtet wird. Denn Menschen aus seiner Heimat waren betroffen, Galiläer, wahrscheinlich Osterpilger. All die Menschenmassen, die Jahr für Jahr zum Paschafest nach Jerusalem pilgerten, machten regelmäßig die römischen Truppen nervös. Man befürchtete Aufruhr und Terror. Pilatus, so bezeugen es verschiedenste, auch außerbiblische Quellen, war bekannt für sein brutales und rücksichtsloses Durchgreifen.

Neben Entsetzen und Wut tauchen Fragen auf: Wieso geschieht so etwas? Wie kann Gott das zulassen? Die Frage ist dieselbe, wie sie heute viele Menschen stellen. Allerdings ist die Antwort eine andere. Die Schuld wird nicht bei Gott gesucht, sondern beim Menschen. Die Ermordeten müssen etwas angestellt haben, sonst wären sie nicht so bestraft worden. Was mag ihre Sünde gewesen sein?

Auf solch müßige Spekulationen lässt sich Jesus erst gar nicht ein. Statt dessen fordert er zu einem Perspektivwechsel auf. Denn er will seine Zuhörer dahin bringen, nicht über etwaige Sünden anderer, sondern über die eigenen nachzudenken. Um das zu unterstreichen, zitiert er gleich noch eine weitere „Schlagzeile“: Offenbar war bei Grabungsarbeiten für eine Wasserleitung ein Festungsturm beim Teich Schiloach eingestürzt und hatte 18 Arbeiter unter sich begraben. Während man heute die Schuld bei den Baubehörden oder der Baufirma suchen würde, fragte man damals eben wiederum nach der Schuld der betroffenen Opfer. Und wieder kehrt Jesus die Sichtweise um: Such die Schuld nicht bei anderen, auch nicht bei Gott, sondern fang bei dir selbst an. Du, du selbst hättest unter den Opfern sein können. Wie wäre es um dich bestellt gewesen? Wärst du bereit gewesen, so plötzlich aus dem Leben zu scheiden und vor Gottes Angesicht zu treten? Erkenne dich daher, wenn du solche Schreckensnachrichten hörst, in dem Feigenbaum wieder. Vielleicht bringst du wie dieser keine oder zu wenig Frucht. Und so wie der Gärtner ihn noch nicht fällt, sondern ihm eine weitere Chance gibt, so hat Gott auch mit dir Geduld. Nutze sie, indem du umkehrst und mehr Frucht bringst!

Wie meist im Evangelium geht es hier um die Umkehr von Einzelnen. In diesen Tagen erleben wir allerdings auf eine für die ganze Kirche bittere Weise, dass es auch so etwas wie die Umkehr einer Institution geben kann. Schon die Missbrauchsfälle in Amerika, dann die in Irrland, jetzt die in Deutschland erfüllen mich und ohne Zweifel jeden recht denkenden Katholiken mit äußerster Scham, mit tiefem Mitleid mit den unschuldigen Opfern perverser Priester und Ordensleute und auch mit Zorn über das vertuschende Versagen so mancher verantwortlicher Bischöfe und Ordensoberen. Ich möchte versuchen, in gebotener Kürze ein paar Gedanken zu diesem furchtbaren Thema zu sagen.

Es hat eine lange Tradition in der Kirche, zu sagen: die Schuld, ja die teils entsetzliche Schuld, die es in ihr gibt, sei immer eine solche von Einzelnen und berühre nicht die Kirche insgesamt. In einem gewissen Sinn ist das auch richtig. Denn sündigen kann nur der einzelne, nicht aber eine Körperschaft. Aber es ist inzwischen ein Bewusstsein dafür gewachsen, dass es auch so etwas gibt wie eine strukturelle Sünde, die sich nicht auf alle, aber doch auf Teile einer Institution auswirkt; d.h. Verhaltensmuster, die auf schlimme Weise das Verhalten vieler Verantwortlicher einer Institution prägen.

Im Fall der Missbrauchsfälle sieht das so aus: In der Regel galt den Tätern, weil sie unmittelbar der Obhut des Bischofs oder Ordensoberen anvertraut sind, die größere Sorge als den Opfern. Dass diese kranken und perversen Priester und Ordensleute nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern oft versetzt wurden, und zwar vielfach in ähnliche Funktionen, ist ein verantwortungsloses Verbrechen an unzähligen Kindern und Jugendlichen. Natürlich weiß man heute mehr über Pädophilie als früher; man weiß, dass das Versprechen, umzukehren, zu beichten und sich zu bessern, einfach nicht genügt, sondern dass eine Therapie notwendig ist. Man weiß auch besser Bescheid über die Grenzen von Therapien, die bei weitem nicht immer helfen, weswegen man stets auch mit Rückfällen rechnen muss. Trotzdem ist es ein furchtbares Versagen der Kirchenverantwortlichen, dass für sie Täterschutz Vorrang hatte vor Opferschutz; dass ihnen die Sorge um den Ruf der Kirche wichtiger war als die Sorge um die körperlich und seelisch oft für ein ganzes Leben verwundeten Kinder. Ich stehe auf dem Standpunkt: es ist gut und notwendig, dass das Vertuschen und Wegschauen aufhört, dass die ganze grässliche, ungeschminkte Wahrheit auf den Tisch kommt und Maßnahmen zum Schutz der Kinder und zur Strafverfolgung der Täter ergriffen werden.

Dennoch gibt es in der Weise, wie dieser furchtbare Sumpf medial bearbeitet wird, etwas, das mich ebenfalls empört. Ich will es als meine ganz persönliche Einschätzung benennen. Jedem sei es unbenommen, darüber anders zu denken.

Immer wieder kann man sowohl in sog. primitiven wie auch in aufgeklärten Gesellschaften feststellen, dass sich die Menschen Sündenböcke schaffen, um von eigenem Versagen abzulenken. Im Moment ist dieser Sündenbock die katholische Kirche, so als hätte sie allein oder zumindest hauptsächlich die Missbrauchsprobleme. Aber jeder, der sich auch nur ein wenig auskennt – v.a. Psychotherapeuten, auch ich selbst aus vielen Gesprächen – weiß, dass die jetzt im katholischen Milieu aufgedeckten Missbrauchsfälle nur die Spitze eines Eisberges sind; dass es sich hier um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt.

Dazu ein paar Zahlen, die jeden nur erschüttern können: Laut Statistik des Bundeskriminalamtes werden in Deutschland jährlich 15.000 Kinder unter 14 Jahren sexuell misshandelt. Man geht davon aus, dass jedes 3./4. Mädchen und jeder 7./8. Junge betroffen sind. Weit überproportional und noch viel mehr sind Kinder mit Behinderung betroffen, weil sie sich noch weniger zu wehren vermögen. 3 von 4 Psychiatriepatientinnen und 9 von 10 Prostituierten wurden als Kind sexuell missbraucht.

Was die Täter betrifft, kommen sie zu 90 % aus dem sozialen Nahbereich der Kinder. 80-90 % sind männlich, 10-20 % weiblich, und gehören allen Altersschichten und gesellschaftlichen Gruppen an. Zu den Tätern zählen – ich zähle sie in der Reihenfolge auf, wie www.frauenaerzte-im-netz.de sie angeben: Väter, Stiefväter, Brüder, Lehrer, Priester, Mütter, Onkel, Babysitter, Freunde der Großeltern, Großväter, Tanten, Trainer, Erzieherinnen, Therapeuten, Nachbarn, Ärzte … Nur 10 % der angezeigten Fälle führen in unserem Land zu einer gerichtlichen Verfolgung mit Hauptverhandlung, davon noch einmal nur 10 % zu einem Schuldspruch, und von diesen bei nur 10 % zu Gefängnisstrafe; die übrigen werden mit einer fast lächerlich anmutenden Geld- bzw. Bewährungsstrafe belegt. Scham, Angst und Vertuschung um des guten Rufes der Familie willen sind (die oftmals sehr verständlichen) Gründe dafür, dass die meisten Fälle niemals aufgedeckt werden.

Hinter all diesen dürren Zahlen stehen immer Einzelschicksale. Zugleich zeigen sie, dass es sich um ein furchtbares Massenphänomen in unserer Gesellschaft handelt. Die aufgedeckten Fälle an katholischen Schulen, die sich über Jahrzehnte erstrecken, sind ein winziger Ausschnitt einer Tragödie, die sich täglich irgendwo auch in unserer Umgebung abspielt. Die Menschen empfinden es zurecht als besonders schlimm und verwerflich, wenn Priester solche Verbrechen an Kindern begehen. Aber weder die jetzt vielfach bezichtigte zölibatäre Lebensform noch die die Ehe – denn es sind ja auch viele Verheiratete involviert – sind Schuld daran, sondern eine krankhaft-perverse Sexualität, die übrigens oft auch mit persönlichen Missbrauchserfahrungen der Täter in ihrer eigenen Kindheit zusammenhängt.

Alles, was ich genannt habe, relativiert nicht im Geringsten die von der Kirche und wenigen einzelnen ihrer Kleriker begangene Schuld (die mir bekannte Statistik geht bei Klerikern von etwa 2 %, auf die Gesamtbevölkerung bezogen von ca. 3 % Anteil an Pädophilen aus). Aber man kann sagen: Gott sei Dank geht die Kirche bzw. die in ihr Verantwortlichen diesbezüglich einen Weg der Umkehr. Vielleicht kann sie sogar eine Art Vorreiterrolle spielen für einen Umgang mit dem Thema, das den Opfern hilft und die Täter nicht zum Zug kommen lässt.

An uns ist es, die Augen niemals zu verschließen. Dabei darf aber auch niemand leichtfertig beschuldigt werden, denn auch das hat schon den Ruf und so das Leben von unschuldig bezichtigten Menschen zerstört. Es gilt, die Augen offen zu halten, gegebenenfalls zu helfen, wo wir können, und nicht zuletzt, wie wir es in diesem Gottesdienst tun wollen, für die Betroffenen zu beten.

Pfr. Bodo Windolf

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