Predigt vom 26.03.2000
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St. Severin Garching |
Prediger |
Pfarrer Bodo Windolf
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Thema |
Predigt zum 3.
Fastensonntag, Lj. B (26. März 2000)
„Haben der Vatikan und die katholische Kirche
insgesamt zum Holocaust geschwiegen und weggeschaut?“
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Predigt-Text |
Aus aktuellem Anlaß möchte ich heute ausnahmsweise
nicht zum Evangelium predigen, sondern zu einem Thema, das mir sehr auf den
Nägeln brennt.
Das „Mea culpa“ oder Schuldbekenntnis, das Papst
Johannes Paul am 1. Fastensonntag im Namen der Kirche sprach und in dem er auch
die vielfältige historische Schuld von Christen gegenüber Juden beim Namen
nannte, sowie seine Worte am vergangenen Donnerstag in Jad Vaschem, der
Holocaust-Gedenkstätte bei Jerusalem, sind in Israels Presse vorwiegend positiv
aufgenommen worden, auch wenn kritische Stimmen nicht fehlten. In Deutschland
hat es allerdings kaum ein Kommentar versäumt, zum Teil auch scharfe Kritik zu
üben: daran nämlich, dass der Papst das Verhalten der katholischen Kirche
während des nazistischen Terrors nicht erwähnt habe. Immer wieder ist vom
„Schweigen des Vatikans“ und insbesondere Papst Pius XII. die Rede; davon, dass
dieser Papst bei den Nazigreueln an den Juden weggeschaut und durch sein
zögerliches Verhalten Hitler ermutigt habe; dass daher kaum eine Frage für
Katholiken so peinlich sei wie die nach dem Verhalten ihrer Kirche insgesamt
während der Nazizeit; und dass, wie Michel Friedmann, Vizepräsident des
Zentralrats der Juden in Deutschland kommentierte, Johannes Paul trotz seiner
Worte eine einmalige historische Chance vertan habe.
Ich muss gestehen, dass es mir fast die Sprache
verschlägt, mit welcher Undifferenziertheit, ja mit welchem
Verleumdungspotential Kommentatoren in Presse, Rundfunk und Fernsehen landauf,
landab diese historisch einfach nicht haltbare Behauptung verbreiten und auf
diese Weise einmal mehr nicht informieren, sondern öffentliche Meinung und
Stimmung durch Unwahrheit manipulieren.
Was ich nun ausführe, stützt sich auf die minutiösen
Nachforschungen des jüdischen Religionsphilosophen Pinchas Lapide, der über
jeden Verdacht erhaben ist, das Tun der Kirche schön reden zu wollen. Schuld
der Christenheit, wo er sie sieht, nennt er schonungslos beim Namen; ansonsten
aber führt er eine Fülle von Dokumenten, Zitaten von Opfern, Fakten und Zahlen
an, die klar zeigen: der Vatikan hat nicht nur nicht geschwiegen, sondern –
nach der Devise, dass Handeln noch wichtiger ist als Reden - vor allem
tatkräftig geholfen. (Die im folgenden in Klammern gesetzten Zahlenangaben
beziehen sich auf sein Buch: Rom und die Juden. Papst Pius XII. und die
Judenverfolgung, Ulm 19972 )
Zunächst einmal möchte ich den Hintergrund
beleuchten, vor dem sich das Verhalten der damaligen katholischen Kirche
abspielte, nämlich, wie Pinchas Lapide es ausdrückt, die bedrückende und
beschämende Passivität und Gleichgültigkeit der westlichen Demokratien in der
Frage nach dem Schicksal der Juden. Um nur einige Beispiele zu nennen:
Die USA, Kanada und Großbritannien verweigerten
Juden, außer sie wiesen Rang, Namen und Geld auf, die Einreise in ihre Länder
und sogar nach Palästina, das zu dieser Zeit britisches Mandatsgebiet war. Mit
am bekanntesten ist das Schicksal jener 769 Juden, die auf der „Struma“ zwei
Monate lang auf dem Mittelmeer kreuzten, weil sie in Palästina nicht anlegen
durften, schließlich einen von Deutschen besetzen Hafen anlaufen mussten, kurz
vorher aber kenterten und bis auf einen jämmerlich ertranken.
Die Schweiz schickte zahlreiche Juden, denen die
Flucht, teils schwimmend über den Bodensee, in ihr Staatsgebiet gelungen war,
zurück nach Deutschland in den sicheren Tod. Die Bermuda-Flüchtlingskonferenz
von 1943 lehnte ebenfalls Hilfe für die Juden ab, was von einer jüdischen
Zeitung am 14.5.1943 mit den Worten kommentiert wurde: „In Wahrheit ist das,
was einer Hilfe von Juden in Europa von seiten der Alliierten im Weg steht,
nicht, dass ein solches Programm gefährlich wäre, sondern einfach der mangelnde
gute Wille, sich ihretwegen solche Mühe zu machen.“ (190)
Ein letztes Beispiel: Nachdem Samuel Zygelboim, ein
Vertreter der polnischen Judenschaft in London, die Alliierten nach tage- und
nächtelangen Verhandlungen zu keinerlei Initiative angesichts des Mordens der
Deutschen in Polen bewegen konnte, beging er am 22. Mai 1943 Selbstmord in
einem Londoner Hotelzimmer. Er hinterließ die Mitteilung: „... durch meinen Tod
will ich den schärfsten in meiner Macht liegenden Protest gegen die Apathie der
ganzen Welt angesichts der Vernichtung des jüdischen Volkes erheben.“ (193)
Pinchas Lapide resümiert:
„Welche Krankheit lag über den Seelen der freien
Welt, dass sie (...) sich weigerte, den Millionen Juden, die noch die
Möglichkeit zu entkommen hatten, die Tore zu öffnen und dass sie nicht einmal
die Angebote der Nationalsozialisten - ‘Juden gegen Geld’ oder ‘Blut gegen Waren’
- prüfen wollten?
Vor diesem Hintergrund der Verhärtung und der
Gleichgültigkeit gegen den Völkermord muss die katholische Bemühung innerhalb
des von den Nationalsozialisten gequälten Europas beurteilt werden.
Auf der einen Seite Staatsmänner, Diplomaten und
Generäle, die sich weigerten, Juden zu retten, um ‘Peinlichkeiten’ und
‘Komplikationen’ zu vermeiden, auf der andern Bauern, Priester, Hausfrauen,
Nonnen und Arbeiter, die unbewaffnet der gewaltigsten Machtmaschine der
modernen Zeit Trotz boten, um 800.000 Juden zu retten.“ (196)
Wieviele Tausende, Zehntausende, vielleicht
Hunderttausende hätten bei mehr Einsatz der westlichen Länder gerettet werden
können?
Doch nun zum Verhalten Papst Pius XII. In seinen Weihnachtsbotschaften
besonders der Kriegsjahre, aber auch schon vorher, in unzähligen Eingaben,
Protesten und Gesprächen, in Anweisungen an die Botschafter des Vatikans in den
von Deutschen besetzten Ländern erhob er immer wieder seine Stimme für die
Juden und gegen die Nazigreuel. Er gab Anweisungen an die Klöster in Rom,
Italien und anderswo, die Klausur aufzuheben, um dort Juden zu verstecken. Er
ermutigte unzählige Priester und Gläubige, dasselbe zu tun und Juden alle
erdenkliche Hilfe zu erweisen. Er selbst versteckte Juden, in dem er sie in die
Schweizer Garde aufnahm und in den eigenen vatikanischen Räumen und der
päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo verbarg. Er setzte sein
Privatvermögen ein, um Juden mit Lebensmitteln zu versorgen und zur
kostspieligen Emigration zu verhelfen.
Die jüdische Tageszeitung „Davar“ gibt den Bericht
eines Offiziers der jüdischen Brigade wieder:
„Als wir in Rom
einmarschierten, erzählten uns die jüdischen Überlebenden mit dem Ausdruck
tiefer Dankbarkeit und großer Achtung: wenn wir gerettet worden sind, wenn noch
immer Juden in Rom leben, dann kommt mit uns und dankt dem Papst im Vatikan.
Denn im Vatikan selbst, in Kirchen, Klöstern und Privathäusern wurden Juden auf
seinen persönlichen Befehl versteckt ... Selbst auf der Synagoge am Tiber ließ
er sein persönliches Siegel anbringen, und das wurde sogar von den
Nationalsozialisten respektiert.“ (92)
Darüberhinaus wurden Abertausende von gefälschten
Taufscheinen und Pässen sowie Schutzbriefen im Namen des Papstes und von
Nuntien und Bischöfen in besetzten Ländern verteilt, die Unzähligen das Leben
retteten. Wieviele Tausende von Klöstern, Priestern, Mönchen, Nonnen und
einfachen Gläubigen manchmal einzelne, manchmal Dutzende, manchmal auch Hunderte
von Juden oft monatelang unter Einsatz ihres Lebens versteckten - zur Rettung
nur eines einzigen Juden waren im Durchschnitt 25 Helfer notwendig, und viele
von diesen bezahlten ihren Einsatz mit dem eigenen Tod - und das in Frankreich,
Holland, Italien, Rumänien, Ungarn, Polen und auch in Deutschland, wird sicher
nie bekannt werden. Aber eine der abscheulichsten Barbareien der
Menschheitsgeschichte gebar auch viel Heldentum in Kleinen und Verborgenen. Und
so schreibt Pinchas Lapide, wiederum zusammenfassend:
„Die katholische Kirche ermöglichte unter dem
Pontifikat von Pius XII. die Rettung von mindestens 700.000, wahrscheinlich
aber sogar von 860.000 Juden vor dem gewissen Tod von den Händen des
Nationalsozialismus.
[Von den ca. 1.000.000 geretteten Juden, die sich
nicht aus eigener Kraft in Sicherheit bringen konnten, sind das immerhin 70 -
86 %.] Es war,
als ob dieser Kreuzzug der Hilfe den Sinn hatte, teilweise Buße für die
gehässigen Lehren der Vergangenheit zu leisten. Diese Zahlen, so klein sie auch
im Vergleich zu unsern sechs Millionen Märtyrern sind, deren Schicksal jenseits
jeden Trostes liegt, übersteigen bei weitem die der von allen anderen Kirchen,
religiösen Einrichtungen und Hilfsorganisationen zusammengenommen.
Überdies stehen sie in auffallendem Kontrast zu dem
unverzeihlichen Zögern und heuchlerischen Lippendienst von Organisationen
außerhalb von Hitlers Einfluss, die zweifellos über weit größere Möglichkeiten
verfügten, Juden zu retten, solange dazu noch Zeit war: das internationale Rote
Kreuz und die westlichen Demokratien.“ (187)
Es sei nun doch noch die Frage gestellt, ob nicht ein
flammender Protest, eine weitaus lautstärkere Verurteilung der braunen Pest und
die Exkommunikation aller daran Beteiligten, wie ein jüdischer Historiker
meinte, viel wirksamer gewesen wäre.
Ich möchte Papst Pius selbst zitieren: Am 13.5.1940
äußerte er: „Wir müßten feurige Worte gegen die Abscheulichkeiten in Polen
sprechen, und das einzige, was Uns zurückhält, ist das Wissen, dass Worte das Schicksal
dieser Unglücklichen nur verschlimmern können.“ (207)
Und später sagte er in einem Gespräch: „Ich habe
wiederholt erwogen, den Nationalsozialismus zu exkommunizieren, um die
Bestialität des Judenmordes vor der zivilisierten Welt anzuprangern. Doch nach
vielen Tränen und Gebeten bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ein Protest
nicht nur den Verfolgten keine Hilfe bringen, sondern sehr wohl das Los der
Juden verschlimmern könnte ... Vielleicht hätte mir ein feierlicher Protest das
Lob der zivilisierten Welt eingetragen, aber er hätte den armen Juden eine noch
unerbittlichere Verfolgung gebracht als die, die sie jetzt zu leiden haben.“
(222) Und daher musste „jede unserer öffentlichen Kundgebungen ernsthaft
abgewogen und abgemessen werden im Interesse der Leidenden selber, um nicht
ungewollt ihre Leiden noch schwerer und unerträglicher zu gestalten“. (230)
Das Beispiel Holland bezeugt die Richtigkeit dieser
Einschätzung: Als die katholischen Bischöfe einen gemeinsam mit der
evangelisch-reformierten Kirche geplanten Protest nach Intervention des
Reichskommissars für Holland Seyss-Inquart nicht zurückzogen, wurden
unmittelbar danach sämtliche katholischen Juden - unter ihnen befanden sich
auch Edith Stein sowie die Geschwister Loeb - verhaftet und deportiert. Da die
evangelischen Kirchen den öffentlichen Protest absagten, erhielten alle
evangelischen Juden – einschließlich derer in Mischehen – insgesamt ca. 9000,
die Befreiung von der Deportation. P. Lapide schreibt:
„Die
traurigste und am stärksten zum Nachdenken zwingende Schlussfolgerung ist
diese: Während der katholische Klerus von Holland lauter, ausdrücklicher und
häufiger gegen die Judenverfolgung protestierte als die kirchliche Hierarchie
aller andern von den Nationalsozialisten besetzten Länder, wurden mehr Juden,
einige 110.000 oder 79 % von allen – aus Holland in die Todeslager deportiert
als irgendwo sonst im Westen.“ (173)
Ein letztes Beispiel Betroffener aus dem KZ Dachau.
Der dort mit Hunderten von anderen Priestern internierte Luxemburger Msgr. Jean
Berhard berichtet:
„Die inhaftierten Priester
zitterten jedesmal, wenn wir von einem Protest von einer kirchlichen Stelle
erfuhren, besonders aber des Vatikans. Wir hatten alle den Eindruck, dass
unsere Wärter uns schwer für die Wut büßen ließen, die diese Proteste
hervorriefen ... jedesmal wenn die Art, wie man uns behandelte, plötzlich
verschärft wurde, verliehen die protestantischen Pastoren unter den Gefangenen
ihrem Unwillen den katholischen Priestern gegenüber Ausdruck: Euer großer
naiver Papst und diese Narren, eure Bischöfe, haben wieder den Mund aufgemacht
... Warum begreifen sie es denn nicht endlich und halten ein für allemal den
Mund. Sie spielen die Helden, und wir müssen die Rechnung bezahlen.“ (225)
Ein bewegendes Zeugnis dafür, welcher Balanceakt
jedes Reden einem Terrorregime gegenüber war, das ohnehin jenseits aller
moralischen Skrupel und damit argumentierender Proteste stand.
Zum Schluss: Papst Pius XII hat vielfältigste Achtung
und bewegende Dankesbezeugungen von jüdischer Seite und zahlreiche durch ihn
Geretteten erfahren. Stellvertretend für viele andere sei Moshe Sharett, erster
Außenminister und danach zweiter Ministerpräsident Israels, mit seiner Aussage
vor dem Exekutivausschuss der „Jewish Agency“ über seine Begegnung mit Pius
XII. zitiert:
„Ich sagte ihm (dem Papst),
meine erste Pflicht sei es, ihm und durch ihn der katholischen Kirche im Namen
der jüdischen Öffentlichkeit für all das zu danken, was die Kirche in den
verschiedenen Ländern getan habe, um Juden zu helfen und Kinder und Juden im
allgemeinen zu retten ... Wir sind der katholischen Kirche tief dankbar für
das, was sie in jenen Ländern getan hat, um zu helfen, dass unsere Brüder
gerettet werden konnten.“ (201)
Eine letzte Bemerkung: Niemand bestreitet, dass es auch
tausendfältiges Versagen, Schweigen, Wegschauen, ja Komplizenschaft von
Katholiken - aber gewiss nicht nur und wohl nicht einmal überwiegend von ihnen
- gegeben hat und viel mehr hätte getan werden können. Doch wer von uns, die
wir uns in der glücklichen Lage befinden, weder unser eigenes Leben noch das
von Angehörigen riskieren müssen, um für andere Menschen und die Wahrheit
einzutreten - wer von uns hat das Recht, hier moralisch zu urteilen oder gar zu
verurteilen?
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